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Teil 3 – Versöh­nung? Bin ich der Täter?

Versöh­nung? 

Bin ich der Täter?

Versöhnung

Frau J.: »Auf jeden Fall habe ich dann diese andere Familie kennengelernt. Irgendwie haben sich auch unsere Familien kennengelernt. Sie haben ein Stück Land in H., das verwalten die. Und weil sie nicht alles verwalten können, haben sie meine Eltern gefragt, ob sie ein Stück Land haben möchten, um das zu bepflanzen. Und so haben meine Eltern, als sie noch da gelebt haben, mit dieser Familie zusammen das Land bearbeitet.

Diese Menschen sind voller Liebe. Ihre Mutter ist wirklich eine Frau voller Liebe. Sie feiern alle Feiertage zusammen und wir haben sogar einmal während der Moslem-Fastenzeit für sie gekocht.

 

Meine Eltern haben ihr neues Haus in L. gebaut. Das Erste, was ich als Kind gesagt habe, war: ›Es darf nicht viele Treppen geben und die Türen müssen breit genug sein, damit A. [die Mutter der anderen Familie] mit ihrem Rollstuhl reinkommen kann‹. Und das war in meinem Herzen auch das Wichtigste. Ich glaube, dass es ein wunderschönes Beispiel für Versöhnung ist. Aber auch jetzt ist mir nicht klar, wie das möglich ist.«


Bin ich der Täter?

Herr D. (Republika Srpska): »Ich bin Kriegsveteran und bin offenbar der Einzige hier, der auf dieser Seite war, die hier Aggressor genannt wird. Das ärgert mich sehr. Alle Generationen aus meiner Familie, die ich kenne, sind wirklich in Bosnien aufgewachsen. Man hat auf mich geschossen, und ich war auch in der Situation, auf andere zu schießen. Während des Krieges hatte ich auch ein Kind, und ich hatte große Angst.

 

Ich hatte einen Bruder, der auch in der Armee war. Ich hatte einen Vater, der in der Armee war. Ich hatte kein Wasser, und ich hatte auch keinen Platz, wo ich mich hätte baden können. Manchmal vergingen bis zu sechs Wochen, bis ich nach Hause gehen konnte. Ich habe Reis gegessen. Tagelang Reis. Alles, worüber ich nachgedacht habe, war: ›Wie kann ich überleben? Wie kann ich anderen helfen?‹, und wo ich helfen kann.

 

Während des Krieges habe ich viel Energie aufgebracht, um ein Musikfestival zu organisieren. Ich habe versucht, Sachen zu machen, die an das normale Leben erinnern. Während des Krieges habe ich ein Theaterstück über Gewalt auf die Beine gestellt. Damals hatte ich auch eine These, vielleicht ist Gewalt auch eine Möglichkeit, wie man Liebe ausdrücken kann für diejenigen, die nicht wissen, wie Liebe auszudrücken ist. In diesem Theaterstück ging es um Gewalt, Mord, Vergewaltigung. Keiner hatte in dem Stück einen Namen.«


Vergeben?

Herr D.: »Ich habe keinen Glauben daran, dass es in diesem Land Vergebung geben wird, weil ich auch irgendwie niemals wütend war. Ich bin wütend darüber, dass jemand auf mich wütend ist. Ich habe auch wirklich mein Leben aufs Spiel gesetzt, wo ich nach meinen Freunden, die Moslems waren, in den Konzentrationslagern um Banja Luka herum gesucht habe. Ich habe sie nicht gefunden, aber Gott sei Dank, ich weiß, dass sie überlebt haben. In diesem Land sind die Täter und die Helden ein und dieselbe Person, abhängig davon, welche Seite von diesen Personen spricht.«


Bürgerkrieg – ein Krieg der Bürger?

Herr D.: »Ivo Andrić [bekannter bosnischer Dichter] hat es sehr gut gesagt:

›Krieg ist die Zeit, wenn die Klugen verstummen, wo die Dummen anfangen zu herrschen, wo die Armen auf einmal reich werden‹ (1982). Dieser Krieg war ein Bürgerkrieg, das war unser Krieg. Ich verstehe nicht, wenn jemand sagt: ›Es war eine Aggression‹: Denn wir sind es, die gegeneinander gekämpft haben. Wir Nachbarn, wir Menschen aus Bosnien haben gegeneinander gekämpft. Während meines Aufenthaltes in diesen Tagen bei meinem Trauzeugen hier in Sarajevo, der während des Krieges drei Mal verwundet wurde und hier in Sarajevo ins Gymnasium ging, habe ich mich gewundert, wie kann mein Freund ein Aggressor sein, der ist doch von hier, von Sarajevo: Er wurde hier auch verwundet. Ein Aggressor ist jemand von außerhalb; aber hier stimmt es nicht, denn wir haben alle gegeneinander gekämpft.

 

Also ich glaube nicht an die Vergebung, während so etwas noch in der Luft ist. Ich bin mir hundertprozentig sicher: Würde ein neuer Krieg hier wieder stattfinden, und egal mit was für einer humanen Arbeit wir gerade beschäftigt sind, dass sofort meine Freundinnen T. und S. und ich auf verschiedenen Seiten kämpfen würden.«


Nichtwahrnehmen ist besser

Herr S.: »Ich glaube, das Problem dieses Landes ist, dass wir alles unter den Teppich kehren und deshalb kommt es immer wieder zum Krieg. Herr D. hat es super gesagt, wenn eine Kriegsfahne gehisst wird, dann gibt es keine Weisheit mehr. Es ist natürlich, dass da, wo du lebst, du dich auch verteidigen wirst. Und bis zum nächsten Mal, bis zum nächsten Krieg sind wir alle ruhig. Aber deshalb gibt es Geschichten, die an die nächsten Generationen weitererzählt werden, und wir kommen immer wieder auf vergangene Kriege zurück.«


Was ist Vergebung?

Herr S.: »Aber die Menschen verstehen nicht, dass Vergebung bedeutet, dass ich einfach nur die Person verstehe, weshalb sie das gemacht hat, obwohl ich nicht mit deren Handlung einverstanden bin. Ich versuche wirklich mit Menschen zu arbeiten, und es gibt Fortschritte. Denn würde ich nicht daran glauben, würde ich auch nichts machen. Ich bin mir nichtsdestotrotz sicher, dass es hier wieder zum Krieg kommen wird. So lange wir immer noch über Opfer sprechen; denn Opfer gab es nur in dem Moment der Tat. Wir sind keine Opfer mehr. Und solange wir auch andere in die Opferrollen reinstecken, Opfer hier, Opfer da, geht es nicht weiter. Du bist ein Überlebender, schau, was du jetzt machst. Darüber spricht man nicht bzw. da wird zu wenig darauf hingearbeitet. Das ist meine Sorge. Wenn es wieder Krieg gibt, dann werde ich schon alt sein. Und wo soll ich dann hin?«

 

Hier endet der »Gesang vom Krieg und Frieden«, in dem Zeitzeugen zum ersten Mal überhaupt und mit zunehmendem gegenseitigen Vertrauen von ihrer Zeit im Bürgerkrieg erzählten. Es folgen nun weitere Stimmen von Zeitzeugen: das Leben im ehemaligen Jugoslawien und die Hoffnung auf Hilfe und Frieden.


Bedrohung und Krieg: Sie machten alle mit

Herr S.: »1990 ging ich zur Militärschule in Zagreb (Kroatien). Das war meine erste Konfrontation mit einem anderen Leben. Das war mein erster kultureller Schock. Das Leben in Zagreb war inhaltsreicher und westlicher. In den Kaufhäusern konnten gute Kassetten mit moderner Musik und moderne Kleidung gekauft werden. Mich nannte man Bosnier und sich selbst Kroaten. Schulkameraden aus Slowenien bezeichneten sich als Slowenen. War ich verwirrt! Ich dachte, wir sind alle Jugoslawen. Bis Ende 1990. Zunächst verließen Slowenen die JNA (Jugoslawische Volksarmee), fast organisiert und ohne viel Aufsehen, danach die Kroaten aus dem Landesteil Kroatien. Irgendetwas passierte, was mir nicht ganz klar war.«


Kriegszeit: Nachbarn gegen Nachbarn

Herr S.: »Krieg ist eine enorm quälende Angelegenheit. In meiner Jugendzeit herrschte Mangel an Nahrung, Strom, Süßigkeiten. Wir waren von allen verlassen. Die bis dahin gemeinsame Armee fuhr mit Panzern auf den Straßen meiner Stadt Zenica. Panik kam auf. Kampfflugzeuge flogen über die Stadt. An dem ersten Kriegstag wurde ich im Dorf Mutnica aus dem Bus geholt (mit allen anderen Passagieren). ›Reservisten‹ mit halbautomatischen und automatischen Gewehren standen vor uns. Wir mussten in einer Linie stehen, mit Händen in der Luft, und ein junger Mann, ca. dreißig Jahre alt, mit Kokarde [ein militärisches Abzeichen] sagte: ›Die sollten alle ins Simos Keller.‹ Ein anderer sagte: ›Das machen wir nicht, sie sollen gehen, der Bus reicht aus.‹ Der andere war älter, und auf ihn wurde gehört. Das war definitiv das Ende meiner damaligen Identität.

Ja, und wir fühlten, dass uns die Welt im Stich ließ. Sie hat den Krieg nicht verhindert. Es gab keine Bruderschaft und Einheit mehr.«