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Teil 1 – Mord und Sühne … den Hass trans­formieren

Mord und Sühne
Den Hass trans­formieren

Mord und Sühne

Herr S.: »Ich könnte über meinen Prozess sprechen, wie Hass sich transformiert hat, zuerst in Angst und danach, dass ich den Menschen helfe, wie sie ihren Hass in etwas Gutes umwandeln können.

 

Ich möchte gern über einen meiner Patienten sprechen, auch ein Kriegsveteran, der momentan bei uns wegen seines Alkoholismus in Behandlung ist. Er war Diversant [feindlicher Agent], und ich glaube, er hatte auch an vielen Aktionen im Krieg mitgemacht. Ich glaube, er hat auch viele Kriegsfeinde umgebracht. Aber da ist ein besonderes Ereignis, was sich in seinen Erinnerungen festgemacht hat.

 

In einem Nahkampf war er schneller als der Kriegsfeind. Er hat ihn angeschossen und nicht sofort umgebracht. Dieser verwundete Soldat ist vor seinen Augen lange und langsam gestorben. Und das ist ein Ereignis, das er nicht vergessen kann. Es kommt immer wieder hoch. Nur der Alkohol hilft ihm bei diesen Erinnerungen, damit er das ein bisschen einfriert. Er hat Alkohol in wirklich großen Mengen zu sich genommen. Vor drei Monaten kam er zur Behandlung. Bei Kriegsveteranen gibt es immer dieses Scham- und Schuldgefühl, dass sie sich überhaupt zur Behandlung gemeldet haben.«


Mutter und Kinder im Krieg

Frau N.: »Ich war die ganze Zeit in Zenica. Es gab verschiedene traumatische Erfahrungen. Die ersten Granaten sind nahe bei meinem Haus heruntergefallen. Ich hatte keinen Schutzbunker, nicht im Haus und auch nicht in der Nähe. Ein Jahr lang haben wir fast ohne Nahrung überlebt.

Eine Granate hat das Haus meiner Großmutter getroffen, und sie war drinnen. Auch eine Granate fiel zwanzig Meter entfernt vom Ort, wo ich gearbeitet habe, und Menschen sind da ums Leben gekommen, und ich war zu dem Zeitpunkt im Gebäude.

 

Andauernd hatte ich das Gefühl, auf irgendwas zu warten. Das ist nur ein Teil. Viele meiner Freunde und Familienmitglieder wurden verwundet. Aber wenn ich versuche zu entscheiden, welche Ereignisse für mich am schlimmsten waren, dann ist es, als ich in Busovaca gearbeitet habe. Busovaca ist zwanzig Kilometer von Zenica entfernt.

 

Ich habe im Kindergarten gearbeitet und mein Kind war bei meiner Mutter. An diesem Tag wurde Zenica bombardiert. Wir haben gedacht, es ist alles dem Erdboden gleichgemacht worden, denn wir haben die Detonationen in Busovaca gehört. Und als ich in den Kombi gestiegen bin und nach Zenica fuhr, da war so eine Stille, schrecklich. Ich habe meine Tochter in der Schule gefunden. Meine Mutter hat sie in die Schule gebracht, denn auch meine Eltern hatten keinen Schutzbunker und in der Schule gab es einen. Sie saß hingekniet da und hat ganz fest ihre Puppe gehalten. Für mich war es am schlimmsten, dass ich meine Tochter nicht schützen konnte. Das war meine größte Frustration.«


Flucht und Vertreibung

Frau N.: »Da war noch ein Moment, der sehr schwierig für mich war. Als die Menschen aus Zepa geflohen sind und nach Zenica gebracht wurden. Ich war in der Gruppe, die die erste psychologische Hilfe hätte leisten sollen. Da kamen ungefähr 500 Flüchtlinge, ich weiß nicht in wie vielen Bussen, irgendwie nach Mitternacht. Aber ich habe noch nie eine schlimmere Stille gehört.

 

Wenn ich mich an diese Stille zurückerinnere, die alles zerstört, das ist etwas, was mich überflutet. Ich weiß, dass ich in einem Zeitabschnitt im Krieg richtigen Hass verspürt habe. Dieser Hass war so groß, dass ich nicht einmal aufrecht gehen konnte. Ich war zusammengerollt, mein Bauch tat so weh, dass ich mich nicht aufrichten konnte. Aus diesem Hass heraus kam zuerst ein Gefühl der Abwehr bei mir hoch, also wollte ich mich der ersten Armee anschließen, der Verteidigungsarmee. Ich habe gesagt: ›Es gibt keine Chance, dass sie einfach so kommen, um mich umzubringen, ich werde mich verteidigen‹. Da haben mir die Soldaten gesagt: ›Geh nach Hause und pass auf dein Kind auf‹. Dann habe ich mich dazu entschlossen, etwas zu machen, nicht passiv zu sein. Ich habe angefangen mit Kindern zu arbeiten. Aber ich habe richtigen Hass verspürt. Ich habe so sehr die Menschen gehasst, dass es schrecklich war. Und ich hatte so große Schmerzen im Bauch, dass ich nicht einmal richtig laufen konnte.«


Den Hass transformieren

Frau N.: »Und als diese Schmerzen so groß waren und ich an einem Morgen aufwachte, habe ich zu mir gesagt, aber N., du hast doch bis jetzt noch nie jemanden gehasst, wen hasst du denn jetzt? Dann wurde mir klar, ich hasse all diejenigen, die ich nicht sehen kann, die nicht in meinem Blickwinkel sind. Mein Hass hatte keinen Namen und Nachnamen. Dann habe ich mich gefragt, wieso ich diese Menschen hasse. Und als ich nur ein bisschen tiefer in mich reinschaute, wurde mir klar, dass ich einfach nur Angst hatte. Ich hatte einfach nur Angst um mein Leben und das Leben meiner Kinder. Das war etwas ganz Befreiendes für mich, weil ich da zum ersten Mal verstehen konnte, wieso manche Menschen Zenica verlassen haben und wieso manche Menschen auf mich schießen, einfach aus Angst.«