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Teil 2 – Wie der Krieg nach Sarajevo kam

Wie der Krieg

nach Sarajevo kam

Frau E.: »Ich war in Sarajevo die ganze Zeit. Als Frau V. nur das Wort ›Wasser‹ gesagt hat, das war schrecklich. Diesen Sommer gab es ja hier keinen Regen. Ab und zu blieben wir für ein paar Stunden ohne Wasser, und da kriegte ich regelrecht Panik. Am Anfang, vor dem Krieg, als die Demonstrationen waren, war ich 18 Jahre alt. Hier in der Nähe ist ja diese Brücke, wo das erste Kriegsopfer – Suada – erlegen ist. Wir sagen ja, dass das der Kriegsanfang war. Ich habe dieses Bild von drei Personen, die Mützen auf den Köpfen hatten. Man konnte nur ihre Augen sehen, sie hatten Gewehre, ich weiß nicht, was für welche. Und sie haben nur auf die Zivilisten, auf ihre Knie geschossen.

 

Ich bin zum Polizisten gelaufen: Denn nur eine Nacht zuvor, wenn du am Abend die Musik nur ein bisschen lauter gemacht hast, kam sofort die Polizei, um für Ordnung zu sorgen. Wir haben uns ja sicher gefühlt. Also bin ich zum Polizisten gelaufen, um zu fragen: ›Wer sind denn diese Personen?‹ Und er solle sie doch stoppen. Und der Polizist meinte: ›Geht nach Hause.‹ Also ging ich nach Hause und kam an einem Lebensmittel­geschäft vorbei und ging rein, um Saft zu kaufen. Als ich reinkam, habe ich den Saft genommen und bin zur Kasse. Um mich herum haben die Menschen alles geklaut, ich konnte es nicht fassen – alle klauen. Ein Mann hat sogar die Kasse geklaut, es war schrecklich. Ich habe gesehen, wie vor meinen Augen alles zerfällt.«


Zerfall und Gewalt beginnen unmittelbar

Frau E.: »Diese Bilder verursachen immer noch Gänsehaut, und das war ja noch das Einfachste, das Schmerzfreie. Und ich gehe weiter nach Hause und in allen Geschäften wird gestohlen und man hat ja auch mich gefragt: ›Willst du vielleicht diese Schuhe?‹ Ich komme nach Hause und frage meine Eltern: ›Was passiert hier?‹, und meine Mutter sagt zu mir: ›Das ist Krieg!‹ Das war schrecklich.

 

Dann klingelt das Telefon und ich melde mich. Am Telefon ist eine Frau, die serbisch spricht und aus Belgrad anruft. Ich kenne ja diese Frau nicht einmal. Aber sie hat einen Sohn, der zu diesem Zeitpunkt die Wehrpflicht in der Jugoslawischen Armee, hier in Sarajevo, ableistet. Sie hat am Telefon geweint und gefragt, was passiert da in Sarajevo, mein Sohn ist da. […] An diesem Tag hat sich alles um 180 Grad gedreht und alles ging den Bach runter.

 

Die nächsten dreieinhalb Jahre habe ich mich gefühlt, als wäre ich in einem mentalen Konzentrationslager. Ich konnte mich in einem Kreis von zwei bis drei Kilometer bewegen. Weil die, die uns angegriffen haben, waren nur eine Straßenbahnstation entfernt, und wir hatten Angst, dass sie plötzlich vor unserer Tür stehen. In dieser Zeit haben wir nur wenige Worte benutzt: Wasser, Lunchpaket, umgekommen, verletzt usw.«


Nur noch überleben

Frau E.: »Es gab halt nur zehn Worte, über die gesprochen wurde, z. B. Wasser, Brot, Strom, Zigaretten, Kinder. Da gibt es viel Trauma und man bräuchte Tage, um das alles zu erzählen. Jetzt habe ich erst gemerkt, wie viel ich in mir trage. Ich hatte einen Bruder und habe mich freiwillig für die Armee gemeldet, nur um zu wissen, wo mein Bruder ist. Ich habe mich um ihn gesorgt. Und dann komme ich als Soldatin nach Hause und sage: ›Heute Nacht wird nicht geschossen‹; und alle können sich ruhig hinlegen, um zu schlafen. Alle aus dem Wohnhaus haben mir geglaubt, weil ich in der Armee war.«


Tod, Vernichtung, bleibende Verletzungen

Frau J.: »Ich möchte auch ein schönes Beispiel der Versöhnung mitteilen: Eine Familie aus Sarajevo, sie sind Moslems, haben sehr viele Verluste im Krieg gehabt. Ihren Vater hatte eine Granate getroffen, und er wurde zerfetzt. Nach drei Tagen wurde die Mutter verletzt, sie hat jetzt nur noch ein Bein, einen Arm und zwei Finger. Ihre Kinder mussten sich um alles kümmern, und die Älteste war gerade mal 16 Jahre alt. Diese Menschen haben das Recht, alle zu hassen, wie sollen die verstehen, warum ihnen das passiert ist.

 

Aber auf irgendeine Art und Weise haben wir uns kennengelernt. Ich komme aus einer gemischten Ehe. Mein Vatter ist Serbe und meine Mutter Kroatin. Mein Vater war die ganze Zeit im Krieg da. Er wurde an der ersten Linie als lebendes Schutzschild benutzt, weil er Serbe ist. Und immer, wenn die sauer waren, haben sie es an ihm ausgelassen. Er hat viele, viele Erniedrigungen erlebt, von denen er auch heute nicht spricht. Das wenige, was wir wissen, wissen wir von Nachbarn. Und ich weiß nicht, wie mein Vater überhaupt noch normal geblieben ist. Er wurde drei Mal im Krieg verwundet, konnte aber nie die Invalidenrente bekommen, weil ihm keiner diese Bescheinigung geben wollte, halt weil er Serbe ist. Er ist auch heute voller Splitter und hat aber kein Anrecht auf diese Art der Rente.«